Ziel |
Auf dem Wege einer
politisch-historischen Begriffsanalyse soll der Bedeutungsgehalt von
Schlüsselbegriffen zivilgesellschaftlicher Konzepte für den
tschechischen (möglicherweise auch den deutschböhmischen)
Bereich erschlossen und vergleichend mit Österreich und
Deutschland analysiert werden. Damit wird ein Beitrag
zur Erforschung der politischen Kultur in Tschechien geleistet, ebenso
wie ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, zur
politisch-philosophischen Begriffsforschung und zur Sprachgeschichte.
Dabei geht es nicht darum, erneut ein Gefälle im
Entwicklungsniveau zwischen östlichen und westlichen Traditionen
zu thematisieren, sondern die Vielfalt geistesgeschichtlicher und
politisch-philosophischer Entwicklungspfade zu dokumentieren
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Projektbeschreibung |
Die Debatten
über das Konzept der "Zivilgesellschaft" (civil society) haben in
den vergangenen zwanzig Jahren im östlichen wie im westlichen
Europa in der Öffentlichkeit, in der Politik sowie in der
Forschung einen überraschenden Aufschwung erfahren. Dabei wird
dieses Konzept unterschiedlich definiert. In den westlichen
Ländern stand seit den späten siebziger Jahren des 20. Jh.s
die Frage der Selbstorganisation als autonome gesellschaftliche
Mobilisierung (Bürgerinitiativen, NGOs) und der Zusammenhang von
Gesellschaft und Ökonomie bzw. auch Gesellschaft und staatlicher
Administration im Mittelpunkt. Diese Diskussionen stehen in einem
bewussten Bezug zur Aufklärungstradition seit dem18. Jh. und
bilden eine Fortsetzung der Auseinandersetzungen um
Demokratisierungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts.
In den
kommunistischen Ländern suchten die Dissidenten dagegen ein
Gegenmodell zum etatistischen und diktatorischen Allmachtsanspruch der
sozialistischen Ideologie und beschäftigten sich mit den Aspekten
von Individuum, Gemeinschaft und Recht in Opposition zum Staat. Nach
dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft musste in allen
Transformationsstaaten ein neues Verhältnis von Bürger und
Staat gefunden werden. Zum Vorbild dieser ersten
politisch-philosophischen
Debatten wurden nicht immer westliche Konzepte, sondern die
Fragestellungen und Antworten der Dissidenten der siebziger und
achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die historische Tiefenstruktur
der zivilgesellschaftlichen Vorstellungen und ihrer Rückgriffe auf
das frühe 20. und vor allem auf das 19. Jahrhundert blieben dabei
meist außer acht.
Der Diskurs
über die Bürger- oder Zivilgesellschaft
bildet neben Fragen von freier Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und
Europa-Orientierung ein wesentliches Element im Transformationsprozess
der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik nach 1989. Im
November 1989 nannte sich die erste politische Bewegung
„Bürgerforum“. Auch heute noch führen mehrere tschechische
Parteien Begriffe wie „bürgerlich“ (občanský) -teilweise
synonym auch verwendet „demokratisch“ oder „freiheitlich“- in ihrem
Parteinamen. Jedoch geht man auch in der Tschechischen Republik von
recht unterschiedlichen politischen Grundmustern hinsichtlich des
Konzepts der Zivilgesellschaft aus. Die tschechischen Diskussionen
über die Zivilgesellschaft, bürgerliche Gesellschaft,
Rechtsstaat, Staatsbürgertum, Individuum, Öffentlichkeit und
andere demokratische Schlüsselbegriffe berufen sich dabei
teilweise auf die nationalen Traditionen der Ersten
Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) sowie auf neuere
angloamerikanische Vorbilder. Die Erforschung anderer Wurzeln und
historischer Alternativen dieser zivilgesellschaftlichen Grundbegriffe
im Rahmen der tschechischen und (mittel)europäischen
Strömungen seit dem frühen 19. Jh. steht dagegen erst am
Anfang.
Es stellt sich
daher die Frage, ob es für die Tschechische Republik
überhaupt sinnvoll ist, dass zivilgesellschaftliche Konzepte aus
dem Westen importiert werden, oder ob vielmehr auf die Ausbildung und
Erprobung solcher Konzepte in den böhmischen Ländern selbst
aus dem 18. und frühen 19. Jh. zurückgegriffen werden kann.
Verfügt der deutsche Sprachbereich nur über das Grundwort
„Bürger“, so weist das Tschechische mit „měšt’an“ und „občan“
mindestens zwei Bezeichnungen auf, wenn man nicht auch noch das in
kommunistischer Zeit gängige gewordene „buržoa“ dazu rechnet.
Damit ist das Tschechische westlichen Mustern, wie dem Englischen
(burgess/citizen) und dem Französischen (bourgeois/citoyen),
näher als den Wortfeldern anderer mitteleuropäischer
Sprachen. Mit dem Begriff „občan“, der sich von „obec“ (Gemeinde,
Gemeinschaft) ableitet und eher eine dörfliche als städtische
Gemeinschaft meint, weist das Tschechische jedoch eine
Bedeutungsvariante auf, die sich von den westlichen ebenso wie von den
deutschen Bezeichnungen unterscheidet, die sich gleichermaßen auf
Stadt und Staat beziehen.
Die besondere
Bedeutung von lokalen und kleinen dörflichen Formen der
Selbstverwaltung für das tschechische Bürgerverständnis
des 19. Jh.s ebenso wie des 21. Jh.s ist bislang noch nicht eingehender
erforscht worden. Ein Teilaspekt ist dabei die Frage, ob nicht auch im
deutschsprachigen Kontext der böhmischen Länder und
Österreichs im 19. Jh. zivilgesellschaftliche Konzeptionen
existieren, die im Laufe der Nationalisierung verloren gingen. Es steht
zu vermuten, dass derartige Forschungen über die Wurzeln
zivilgesellschaftlicher Elemente in diesem Raum, Schwerpunkte und
Kombinationen erschließen können, die für den
westlichen Bereich unbekannt oder selten sind.
Ziel dieses
Vorhabens ist es daher, mit einer politisch-historischen
Begriffsanalyse den Bedeutungsgehalt von Schlüsselbegriffen
zivilgesellschaftlicher Konzepte für den tschechischen
(möglicherweise auch den deutschböhmischen) Bereich zu
erschließen und vergleichend mit Österreich und Deutschland
zu analysieren. Angewendet werden politikwissenschaftliche, historische
und sprachwissenschaftliche Verfahren. Im Mittelpunkt steht eine
pragmatische Handhabung der historisch-kritischen Begriffsgeschichte
und der modernen Semantologie. In Frage kommt eine Vielzahl von
potentiellen Quellen (Schlüsseltexte von hervorragenden Personen;
Texte, die eine besondere Verbreitung und Resonanz fanden; politische
Programmschriften; zeitgenössische Lexika und
Handbücher zur politischen Kultur).
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