projekt 2III.1
  Tschechische zivilgesellschaftliche Konzepte: komparative Untersuchungen zu Grundbegriffen des politischen Denkens
Ziel

Auf dem Wege einer politisch-historischen Begriffsanalyse soll der Bedeutungsgehalt von Schlüsselbegriffen zivilgesellschaftlicher Konzepte für den tschechischen (möglicherweise auch den deutschböhmischen) Bereich erschlossen und vergleichend mit Österreich und Deutschland analysiert werden. Damit wird ein Beitrag zur Erforschung der politischen Kultur in Tschechien geleistet, ebenso wie ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, zur politisch-philosophischen Begriffsforschung und zur Sprachgeschichte. Dabei geht es nicht darum, erneut ein Gefälle im Entwicklungsniveau zwischen östlichen und westlichen Traditionen zu thematisieren, sondern die Vielfalt geistesgeschichtlicher und politisch-philosophischer Entwicklungspfade zu dokumentieren

Zeitraum 1.6.2003 bis 1.6.2005
Team Prof. Dr. Martin Schulze Wessel
Dr. Robert Luft (Projektkoordinator)
Stefan Zwicker, M.A.
Mgr. Lenka Zwicker
Doz. Dr. Jürgen Nautz
Prof. Dr. Miloš Havelka
Christiane Brenner, M.A.
Stephanie Weiss
etc. Mitarbeiter in der Tschech. und Slowak. Republik
Projektbeschreibung Die Debatten über das Konzept der "Zivilgesellschaft" (civil society) haben in den vergangenen zwanzig Jahren im östlichen wie im westlichen Europa in der Öffentlichkeit, in der Politik sowie in der Forschung einen überraschenden Aufschwung erfahren. Dabei wird dieses Konzept unterschiedlich definiert. In den westlichen Ländern stand seit den späten siebziger Jahren des 20. Jh.s die Frage der Selbstorganisation als autonome gesellschaftliche Mobilisierung (Bürgerinitiativen, NGOs) und der Zusammenhang von Gesellschaft und Ökonomie bzw. auch Gesellschaft und staatlicher Administration im Mittelpunkt. Diese Diskussionen stehen in einem bewussten Bezug zur Aufklärungstradition seit dem18. Jh. und bilden eine Fortsetzung der Auseinandersetzungen um Demokratisierungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts.

In den kommunistischen Ländern suchten die Dissidenten dagegen ein Gegenmodell zum etatistischen und diktatorischen Allmachtsanspruch der sozialistischen Ideologie und beschäftigten sich mit den Aspekten von Individuum, Gemeinschaft und Recht in Opposition zum Staat. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft musste in allen Transformationsstaaten ein neues Verhältnis von Bürger und Staat gefunden werden. Zum Vorbild dieser ersten politisch-philosophischen Debatten wurden nicht immer westliche Konzepte, sondern die Fragestellungen und Antworten der Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die historische Tiefenstruktur der zivilgesellschaftlichen Vorstellungen und ihrer Rückgriffe auf das frühe 20. und vor allem auf das 19. Jahrhundert blieben dabei meist außer acht.

Der Diskurs über die Bürger- oder Zivilgesellschaft bildet neben Fragen von freier Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Europa-Orientierung ein wesentliches Element im Transformationsprozess der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik nach 1989. Im November 1989 nannte sich die erste politische Bewegung „Bürgerforum“. Auch heute noch führen mehrere tschechische Parteien Begriffe wie „bürgerlich“ (občanský) -teilweise synonym auch verwendet „demokratisch“ oder „freiheitlich“- in ihrem Parteinamen. Jedoch geht man auch in der Tschechischen Republik von recht unterschiedlichen politischen Grundmustern hinsichtlich des Konzepts der Zivilgesellschaft aus. Die tschechischen Diskussionen über die Zivilgesellschaft, bürgerliche Gesellschaft, Rechtsstaat, Staatsbürgertum, Individuum, Öffentlichkeit und andere demokratische Schlüsselbegriffe berufen sich dabei teilweise auf die nationalen Traditionen der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) sowie auf neuere angloamerikanische Vorbilder. Die Erforschung anderer Wurzeln und historischer Alternativen dieser zivilgesellschaftlichen Grundbegriffe im Rahmen der tschechischen und (mittel)europäischen Strömungen seit dem frühen 19. Jh. steht dagegen erst am Anfang.

Es stellt sich daher die Frage, ob es für die Tschechische Republik überhaupt sinnvoll ist, dass zivilgesellschaftliche Konzepte aus dem Westen importiert werden, oder ob vielmehr auf die Ausbildung und Erprobung solcher Konzepte in den böhmischen Ländern selbst aus dem 18. und frühen 19. Jh. zurückgegriffen werden kann. Verfügt der deutsche Sprachbereich nur über das Grundwort „Bürger“, so weist das Tschechische mit „měšt’an“ und „občan“ mindestens zwei Bezeichnungen auf, wenn man nicht auch noch das in kommunistischer Zeit gängige gewordene „buržoa“ dazu rechnet. Damit ist das Tschechische westlichen Mustern, wie dem Englischen (burgess/citizen) und dem Französischen (bourgeois/citoyen), näher als den Wortfeldern anderer mitteleuropäischer Sprachen. Mit dem Begriff „občan“, der sich von „obec“ (Gemeinde, Gemeinschaft) ableitet und eher eine dörfliche als städtische Gemeinschaft meint, weist das Tschechische jedoch eine Bedeutungsvariante auf, die sich von den westlichen ebenso wie von den deutschen Bezeichnungen unterscheidet, die sich gleichermaßen auf Stadt und Staat beziehen.

Die besondere Bedeutung von lokalen und kleinen dörflichen Formen der Selbstverwaltung für das tschechische Bürgerverständnis des 19. Jh.s ebenso wie des 21. Jh.s ist bislang noch nicht eingehender erforscht worden. Ein Teilaspekt ist dabei die Frage, ob nicht auch im deutschsprachigen Kontext der böhmischen Länder und Österreichs im 19. Jh. zivilgesellschaftliche Konzeptionen existieren, die im Laufe der Nationalisierung verloren gingen. Es steht zu vermuten, dass derartige Forschungen über die Wurzeln zivilgesellschaftlicher Elemente in diesem Raum, Schwerpunkte und Kombinationen erschließen können, die für den westlichen Bereich unbekannt oder selten sind.

Ziel dieses Vorhabens ist es daher, mit einer politisch-historischen Begriffsanalyse den Bedeutungsgehalt von Schlüsselbegriffen zivilgesellschaftlicher Konzepte für den tschechischen (möglicherweise auch den deutschböhmischen) Bereich zu erschließen und vergleichend mit Österreich und Deutschland zu analysieren. Angewendet werden politikwissenschaftliche, historische und sprachwissenschaftliche Verfahren. Im Mittelpunkt steht eine pragmatische Handhabung der historisch-kritischen Begriffsgeschichte und der modernen Semantologie. In Frage kommt eine Vielzahl von potentiellen Quellen (Schlüsseltexte von hervorragenden Personen; Texte, die eine besondere Verbreitung und Resonanz fanden; politische Programmschriften; zeitgenössische Lexika und Handbücher zur politischen Kultur).

Anwendung Mit dieser Analyse wird ein Beitrag zur Erforschung der politischen Kultur in Tschechien in vergleichender Sicht geleistet ebenso wie ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, zur politisch-philosophischen Begriffsforschung und zur Sprachgeschichte. Dabei geht es jedoch nicht darum, erneut ein Gefälle im Entwicklungsniveau zwischen östlichen und westlichen Traditionen zu thematisieren, sondern die Vielfalt geistesgeschichtlicher und politisch-philosophischer Entwicklungspfade zu dokumentieren. Aufgrund solcher historisch fundierter Analysen können Beurteilung der Entwicklung von freier Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Europa-Orientierung verbessert werden und begriffsgeschichtliche Differenzen offengelegt werden. Die gewonnenen Erkenntnisse werden für die Politik, die Medien und die allgemeine Öffentlichkeit in allen betroffenen Ländern von Bedeutung sein, aber auch für Übersetzer der EU.
   
 




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