Barbara Kunzmann-Müller: Die slavischen Sprachen im ehemaligen Jugoslavien - Kontinuität und Diskontinuität der Entwicklung
 

Von den Transformationsprozessen, die seit Beginn der 90er Jahre in Mittel- und Südosteuropa Platz greifen, werden generell alle Länder der Region erfasst. Maßgeblich ins Kalkül zu ziehen ist jedoch, dass sie sich in ihren Dimensionen und der Art, wie sie sich vollziehen, signifikant unterscheiden. In einer ersten Annäherung sollen zwei Gruppierungen angenommen werden. Auf der einen Seite stehen Länder bzw. Staaten wie Albanien, Bulgarien und Rumänien, in denen sich die Bemühungen der Überführung totalitärer ökonomischer und politischer Systeme in marktwirtschaftlich orientierte Strukturen in spezifischer Weise auch auf die Sprache ausgewirkt haben und weiterhin auswirken. Auf der anderen Seite steht das ehemalige Jugoslavien, in dessen Republiken und Regionen dieser Prozess, wenn auch in modifizierter und vermutlich abgeschwächter Form, ebenfalls wirksam ist, das aber zusätzlich dadurch ausgezeichnet ist, dass es als gemeinsame politische und staatliche Entität zerbricht und schießlich zu existieren aufhört. Als Folge dessen kommt es zu Veränderungen, die auch die standardsprachlichen Gegebenheiten grundlegend umgestalten und neu prägen. Weitgehend unberührt davon bleiben bekanntlich das Slovenische und das Makedonische, die sich als Standardsprachen festigen und konsolidieren. Anders hingegen gestaltet sich die Situation des Serbokroatischen/Kroatoserbischen, das als Standardsprache bis 1990 offiziell gültig war. Danach wird es durch eine Reihe von neuen Standardsprachen abgelöst.

Das Serbokroatische/Kroatoserbische, sein linguistischer und extralinguistisher Status bilden den Ausgangspunkt und den Rahmen für die Diskussion der heute etablierten bzw. sich etablierenden Standardsprachen. Auf der Grundlage ausgewählter Arbeiten nativer Sprachwissenschaftler (D. Brozovic/P. Ivic: Jezik srpskohrvatski, hrvatskosrpski, hrvatski ili srpski (1988); D. Brozovic: Lingvisticki nazivi na srednjojužnoslavenskom podrucju (2001); P. Ivic: Srpski dijalekti i njihova klasifikacija (1998) und M. Šipka: Jezik Bošnjaka, Hrvata, Srba i Crnogoraca – Problem klasifikacije i nominacije idioma (2002)) werden linguistische und extralinguistische Aspekte zu den gen. Sprachenbegriffen in Vergangenheit und Gegenwart umfassend dargelegt und an Beispielen erläutert. Dabei wird zu einem eingegangen auf systemlinguistische Fakten des Lexikons und der Grammatik wie Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit bzw. Varianz, deren Bedingungen bzw. Domänen und derzeit erkennbare Entwicklungslinien. Das Augenmerk liegt aber auf der anderen Seite auch auf primär nichtlinguistisch basierten Faktoren wie der Akzentuierung von Eigenständigkeit und der Kennzeichnung von Identität, die nicht selten verknüpft werden mit der Errichtung von Kontrasten und Oppositionen zu anderen benachbarten Identitäten. Sie finden bei der Ausformung der Standardsprachen bekanntermaßen häufig auf vielfältige Weise ihren Niederschlag. Unter diesem Aspekt werden die Nachfolgeidiome des Serbokroatischen/Kroatoserbischen, d.h. insbesondere das Kroatische, das in diesem Zusammenhang besonders aussagekräftig ist, aber auch das Serbische, Bosnische oder Bosniakische und evtl. das Montenegrinische, diskutiert.

 
 
 

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