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Estnisch

Sprachperioden

Vorreformatorische Periode und Reformation

Estnischsprachiges Schrifttum hat es mit einiger Sicherheit schon vor der Reformation gegeben. Belegt sind die ersten Sprachdenkmäler aus der Zeit kurz vor der Einführung der Reformation (Gebetsfragmente, zwischen 1524 und 1528). Die Reformation selbst hatte unmittelbar nur einen Katechismus (das erste gedruckte Buch des Baltikums, von Wanradt/Koell, 1535) hervorgebracht, der aber bald verboten wurde (und dessen Fragmente erst 1929 entdeckt wurden). Ein bemerkenswertes Sprachdenkmal (des Südestnischen) entstand in der Gegenreformation, die sog. Agenda Parva (ein Handbuch für Geistliche), das sprachlich erheblich besser war als viele, auch spätere Werke aus dem Umfeld der Reformation (Estnisch mit deutscher Grammatik) und polnischen Einfluss in der Orthographie aufweist. Das übrige Schrifttum in der politisch instabilen Zeit vor 1629 ist wenig umfangreich, wurde erst in späteren Jahrhunderten entdeckt und blieb für die weitere Entwicklung der estnischen Schriftsprache von geringer Bedeutung.

16. - Beginn des 18. Jahrhunderts

Die sprachliche Basis des überlieferten frühen Schrifttums (zumeist religiösen Charakters und zugleich Übersetzungen) vom 16. bis zum Beginn des 18. Jhs. ist die jeweilige dialektale Variante (des Nord- oder Südestnischen) des Gebietes, in dem die Geistlichen (zumeist deutscher Abstammung) tätig waren. Die Verwendung einer eigenen südestnischen Schriftsprache trug nicht nur den deutlichen sprachlichen Unterschieden Rechnung, sondern ging auch mit der kirchlichen und administrativen Einteilung konform. Stand das Südestnische im 17. Jh. (1686 erschien die Übersetzung des Neuen Testaments) noch gleichrangig neben dem Nordestnischen, so schwand ab dem 18. Jh. die Bedeutung des Südestnischen zusehends. 1739 erschien die erste vollständige Bibelübersetzung auf Nordestnisch; der Bevölkerungsteil, der eine nordestnische Sprachform sprach, hatte sich auf zwei Drittel vermehrt.

Beginn des 19. Jahrhunderts

Zwar gab es zu Beginn des 19. Jhs. noch erbitterte Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung einer zukünftigen gemeinsamen Schriftsprache, aber vor allem das aufkommende Zeitungswesen (auf Nordestnisch) ließ einschlägige Bestrebungen bald als obsolet erscheinen.

2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

In der 2. Hälfte des 19. Jhs. beschränkte sich die Verwendung des Südestnischen auf den äußersten Südosten, das Gebiet Võrumaa (dort Schul- und Predigtsprache); auch hatte das Südestnische den Anschluss in der Diskussion um eine neue Orthographie verpasst: Während für das Nordestnische schon unterschiedliche, viel adäquatere Rechtschreibungen verwendet wurden, bediente man sich im Süden noch der alten, am Deutschen orientierten und damit inadäquaten Orthographie.

Beginn des 20. Jahrhunderts

Zu Beginn des 20. Jhs. hatte sich der Gebrauch der südestnischen Schriftsprache auf einige wenige sporadische Druckwerke reduziert.

1880-1905

Bis 1880 war das Deutsche die offizielle Sprache der höheren Administration und Gerichtsbarkeit sowie des gesamten Ausbildungswesens, die estnische Intelligenzia war deutsch geprägt, versteckte teils sogar ihre estnische Abstammung. Estnisch war die Umgangssprache der unteren Schichten, entsprechend niedrig war sein Prestige. Dann begann eine intensive Russifizierung, die sich primär gegen die Stellung des Deutschen in den russischen Ostseeprovinzen richtete, sich aber zugleich auch negativ auf estnische Bestrebungen auswirkte.

Frühes 20. Jahrhundert

1905 wich diese Politik einer liberaleren, die das Estnische in den Rang der Unterrichtssprache in den untersten Klasssen hob, wodurch zwei große Defizite des damaligen Estnischen deutlich zu Tage traten: Einerseits gab es keine einheitliche, sprachliche Norm, sondern nur ein großes Nebeneinander verschiedener dialektaler Ausprägungen (des Nordestnischen), andererseits fehlten der Sprache Begrifflichkeiten in großer Zahl, da sie bis zu diesem Zeitpunkt kaum für höhere Kommunikationszwecke verwendet worden war. Die in den ersten Dekaden des 20. Jhs. erfolgte Schaffung des Standardestnischen wurde im Wesentlichen von zwei Personen bestimmt, nämlich von J. V. Veski, dem Sprachregulierer, und J. Aavik, dem Sprachreformer. Während Veski die Sprache aus sich selbst heraus entwickeln wollte (d. h. durch Rückgriff auf den Fundus der Dialekte und durch eigene morphologische Möglichkeiten), vertrat Aavik vehement die Ansicht, dass auch fremde Elemente (primär aus dem Finnischen, das ja schon bei der Orthographieschaffung Vorbild gewesen war) sowie Kunstschöpfungen (also individuelle Ästhetik) dabei eine Rolle spielen dürfen. Es ging bei dieser Sprachneuerung keineswegs nur um die Schaffung notwendiger Lexik, sondern auch um die Morphologie und die Syntax.Als sprachliche Grundlage (innerhalb des Nordestnischen) in diesem Standardisierungsprozess hatte sich der Zentraldialekt, die Variante der Hauptstadt Tallinn, herausgebildet. In die Standardsprache wurden aber auch Züge anderer Dialekte übernommen, sodass eine Gleichsetzung von Standardsprache und Zentraldialekt, der sich zudem weiterentwickelt hat, heute nur sehr bedingt zutrifft.

1918-1980er Jahre

Die Standardisierung des Estnischen ist im Weiteren fest verknüpft mit normierenden Wörterbüchern, die neben orthographischen Angaben solche zur Flexion enthielten und damit auch in grammatikalischer Hinsicht präskriptiv waren. Nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands (1918) und dem damit verbundenen Aufstieg des Estnischen zur offiziellen Staatssprache der Republik ergab sich die dringende Notwendigkeit zur Herausgabe von Sprachrichtigkeitswörterbüchern. Die bis heute größte Version (Eesti õigekeelsuse sõnaraamat) erschien zwischen 1925 und 1937 in drei Bänden; in ihr waren nicht nur Neologismen der beiden sprachreformerischen Richtungen enthalten, sondern auch grammatikalische Neuerungen, die als Parallelformen zugelassen wurden; eine handlichere Version (Väike õigekeelsus-sõnaraamat) wurde 1933 veröffentlicht, die bis 1946 zehn Auflagen (viermal revidiert) erlebte und vom Bildungsministerium als verbindlich für Schule und staatliche Organisationen erklärt wurde. Nach der Sowjetisierung Estlands, durch die das Estnische vom Russischen in den Hintergrund gedrängt wurde und das Estnische selbst ein neues, sowjetisches Register mit eigener Lexik und Phraseologie erhielt, wurde 1953 zuerst eine Überarbeitung des kleinen Sprachrichtigkeitswörterbuchs (die einen deutlich normierenden Anspruch erhob, indem sie z. B. viele Parallelformen abschaffte) herausgegeben, dann 1960 ein neues Õigekeelsussõnaraamat, das sich von seinem kleinen Vorgänger durch einen dreimal so großen Umfang und durch weitere Reduzierung der zugelassenen Flexionsformen unterschied; zugleich wurde eine offizielle Sprachrichtigkeitskommission gegründet, die die höchste Instanz in sprachlichen Normierungsfragen für Behörden und Schulen bildete. 1976 erschien das Wörterbuch in überarbeiteter Form, deutlich moderner in der Wortauswahl und um vieles liberaler in der Zulassung paralleler Flexionsformen, deren rigide Normierung in der Version aus dem Jahre 1960 wiederholt Gegenstand von Kritik war. Diese Fassung erlebte in der Sowjetzeit drei weitere Auflagen und stellte bis in die jüngste Vergangenheit hinein die offizielle linguistische Norm dar. Weitere Regelungen bezüglich der Flexion wurden auf Vorschlag der Sprachrichtigkeitskommission zu Beginn der 1980er Jahren korrigiert.