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Estnisch

Kodifikationsgeschichte

Die Geschichte der estnischen Standardsprache steht von Beginn an im Bann zweier großer Problemkreise: der Frage der sprachlichen Grundlage und der Frage der Orthographie. Ihre Lösung steht die ersten Jahrhunderte im Spannungsfeld des deutschen Einflusses auf das Estnische - bis ins späte 19. Jh. hinein waren die Protagonisten Deutsche oder deutsch Gebildete - und wird erst danach zu einer innerestnischen Angelegenheit.

Von ersten Kodifizierungsschritten kann man erst im 17. Jh. sprechen. In diesem Jahrhundert erschienen vier Grammatiken und erste religiöse Texte. Mit diesen von (deutschen) Pastoren verfassten Grammatiken und dem religiösen Schrifttum erfolgte eine erste Normierung des Estnischen, wobei diese aber nur ein Nebenprodukt war: Es ging vielmehr darum, breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen, und dazu benötigte man Übersetzungen der kirchlichen und liturgischen Texte sowie Grammatiken, weil die Pastoren alle Nichtesten, zumeist Deutsche, waren und man ihnen eine Art Gebrauchsanleitung für die Benutzung des Estnischen in der Predigt an die Hand geben musste. Diese von Nichtesten geschaffenen Schriftsprachen (Nord- vs. Südestnisch) unterschieden sich deutlich von den gesprochenen Muttersprachen der bäuerlichen Bevölkerung (Estnisch mit deutscher Syntax, Phraseologie und vielen deutschen Wörtern) und dienten auch ganz anderen Kommunikationszwecken: Sie wurden losgelöst von der muttersprachlichen Gemeinschaft praktisch nur von Nichtesten verwendet, waren für Esten schwer verständlich.

Das 18. Jh. bringt die ersten Wörterbücher hervor, S. H. Vestrings Lexicon Esthonico Germanicum, das erst 1998 publiziert wurde, aber in der ersten Hälfte des 18. Jhs. in Manuskriptform kursierte; das Vocabularium Esthonicum als Teil der Kurtzgefaszte[n] Anweisung zur Ehstnischen Sprache (1732) von A. Thor Helle, der auch für die erste vollständige Bibelübersetzung (1739, Piibli Ramat) verantwortlich war. Mit ihr wurde die Gültigkeit der durch Hornungs Grammatik eingeführten, alten Orthographie (vana kirjaviis), die sich deutlich an der damaligen deutschen orientierte, bis in die Mitte des 19. Jhs. zementiert, als mit E. Ahrens’ Grammatik der Ehstnischen Sprache in ihrer zweiten Auflage (1853) der Grundstein für eine neue, sich am Finnischen orientierende Rechtschreibung (uus kirjaviis) gelegt wurde; ihr phonematisches Prinzip gilt bis heute. Die größten Errungenschaften dieses Jahrhunderts, das auch die Abnabelung vom Deutschen mit sich brachte, sind mit dem Namen F. J. Wiedemann verbunden, der zuerst ein umfangreiches Wörterbuch, dann eine voluminöse deskriptive Grammatik veröffentlichte, die beide in dialektologischer wie historischer Hinsicht bis heute wichtige Nachschlagewerke darstellen. Das 20. Jh. ist geprägt durch zahlreiche Normierungs- und Spracherneuerungsunterfangen, die sich in einer großen Zahl von Sprachrichtigkeitswörterbüchern niederschlagen. Gegen Ende des Jahrhunderts erscheinen die ersten Bände des lange geplanten großen Dialektwörterbuchs wie des einsprachigen Erklärungswörterbuchs.

Schon als gegen Ende des 17. Jhs. noch unter schwedischer Herrschaft soziale Reformen eingeleitet wurden, die u. a. die Verbesserung der Volksbildung zum Ziel hatten, und für die bäuerliche Bevölkerung (fast ausschließlich Esten) die ersten Grundschulen gegründet worden waren, hatte man erkannt, dass die sich am Deutschen orientierende Orthographie (einschließlich der sie tragenden Sprachform) für den Muttersprachler unzureichend war. Während im 18. Jh., bedingt durch die Bibelübersetzung, die alte Orthographie noch unangefochten war, ist das 19. Jh. gekennzeichnet durch zahlreiche Versuche, die Frage der Orthographie einer Lösung zuzuführen, anfänglich mit Vorschlägen, die letztlich dem uneindeutigen Prinzip der deutschen Orthographie nicht entsagten. Erst mit der radikalen Reform (ein Laut = ein Buchstabe, Länge = 2 Buchstaben) durch Ahrens’ Grammatik der Ehstnischen Sprache (1853) war eine adäquate Lösung für die estnische Rechtschreibung gefunden, die sich dann in den 70er Jahren des 19. Jhs. durchsetzte; 1880 erschienen schon 90% aller Bücher in der neuen Rechtschreibung, 1886 schließlich auch das Neue Testament.