"Je näher die EU-Aufnahme, desto euroskeptischer".
"Greece's integration into EU procedures of financial transfers contributed to the consolidation and perpetuation of a free-rider rationality reminiscent of the Ottoman past"
Die Aufnahme neuer Mitgliedsländer in die Europäische Union und deren Integration in ihre Grundprinzipien, Gesetze und Regularien darf nicht nur als ein politisch-ökonomisch-rechtlicher Vorgang gesehen werden. Sicher ist die EU primär eine Union von Nationalstaaten, nicht von Gruppen oder gar Individuen, doch muss sie, um nachhaltig erfolgreich zu sein, von den Menschen in der Nationalstaaten auch akzeptiert und im Alltag gelebt werden. Die Integration in die EU ist also, wie die Erfahrung der letzten Jahre in den alten wie auch den neuen Mitgliedsländern zeigt, in starkem Maße auch ein sozial-kulturell-mentaler Prozess, der von den Menschen in den einzelnen Ländern recht unterschiedlich wahrgenommen und vollzogen wird. Soll das "Projekt Europäische Union" auf Dauer erfolgreich sein, muss also die Teilhabe an der EU auch "in den Köpfen und Herzen" der Menschen vollzogen werden. Aus dem Projekt der (politischen und wirtschaftlichen) Eliten muß ein Projekt aller Bürger werden.
Nach der Erweiterungsrunde vom Mai 2004 steht für 2007 bzw. 2008 die Aufnahme der beiden südosteuropäischen Länder Bulgarien und Rumänien an. Wiewohl in den Ländern der alten EU nach den misslungenen Referenden in Frankreich und Holland eine Erweiterungsmüdigkeit zu erkennen ist, wird in den beiden Ländern das politische Leben ungebrochen von der Diskussion darüber beherrscht, was der Platz des eigenen Landes in der EU ist und wie es fit gemacht werden kann für die rasche Aufnahme in die EU. Die täglichen Äußerungen der Politiker wie auch die Berichterstattung der Medien zeigen, dass in den Regierungen und Bevölkerungen in den beiden Ländern z.T. extrem hohe Erwartungen und Hoffnungen herrschen, die vor allem auf Transferzahlungen gerichtet sind; die EU wird dabei von einigen Politikern und Journalisten nahezu als "Wunderdroge" zur Lösung all jener Probleme dargestellt, zu deren Lösung die eigene Politik bislang unfähig war.
Diesen überzogenen Erwartungen stehen zunehmend Ängste in der Bevölkerung vor Verlust an Souveränität und Identität gegenüber, die von einigen Politikern geschickt instrumentalisiert werden; ein Beispiel dafür ist der überraschende Wahlerfolg der Bewegung "Ataka" bei den Parlamentswahlen in Bulgarien 2005. Entgegen stehen den hohen Erwartungen aber auch, und das wird in den Medien erst in letzter Zeit zunehmend thematisiert, die frustrierend komplexen Prozeduren und Mechanismen der EU, ihre hohen Standards und Leistungsforderungen sowie die inzwischen immer deutlicher erkennbaren konkreten Auswirkungen der EU-Gesetzgebung auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, insbesondere auf die sehr rückständige Landwirtschaft: Umfragen bei Unternehmern haben ergeben, dass vor allem die vorherrschenden KMU den EU-Vorschriften sehr skeptisch gegenüberstehen, und ein führender Politiker der (an der jetzigen Koalition beteiligten) Partei der türkischen Minderheit in Bulgarien äußerte sich überaus skeptisch zur EU-Fähigkeit der bulgarischen Landwirtschaft und zu den Auswirkungen der EU-Agrarpolitik.
Abgesehen von den politischen und ökonomischen Aspekten hat die EU-Aufnahme der beiden südosteuropäischen Länder noch weitere, grundlegendere Dimensionen. Es sind Dimensionen, die im Diskurs nur selten aufscheinen, die aber für die Zukunft der EU und der Balkanländer von erheblicher Bedeutung sind. Gemeint sind die historischen Voraussetzungen und Bedingungen, die die Länder Südosteuropas in die EU mitbringen und für deren Relevanz die Entwicklung Griechenlands seit seinem EU-Beitritt 1981 durchaus indikativ ist.
Gemeinsam mit den Ländern des östlichen Mitteleuropa bringen Bulgarien und Rumänien das schwere Erbe des Sozialismus in die EU, doch zudem sind die beiden Länder auch - ebenso wie Griechenland - belastet durch die historische Erfahrung von jahrhundertelanger osmanischer Fremdherrschaft und patriarchal-autoritärer Kultur. Es ist ein doppeltes Erbe, das sich in die demokratisch-zivilgesellschaftlichen Traditionen und Strukturen der EU nur schwer einfügt bzw. einfügen wird.
Entscheidend scheint zudem die Tatsache zu sein, dass die Grundprinzipien und Grundwerte der EU aus der historischen Erfahrung Mittel- und Westeuropas erwachsen sind und, wie das Beispiel Griechenlands zeigt, in Südosteuropa weithin als "fremd" empfunden werden. In Griechenland zeigt sich, dass selbst nach einem Vierteljahrhundert EU-Zugehörigkeit das Bild bestimmt wird durch scharfe Dichotomien und Entwicklungsdiskrepanzen, vor allem aber eine ausgeprägte 'Mitnahme-Mentalität' bei gleichzeitiger innerer Ablehnung der Vorschriften und zentraler Werte der EU und dass trotz EU-Mitgliedschaft anti-europäische Diskurse und Haltungen weiterhin stark sind.
Durch Jahrhunderte des Autonomieverlusts ist der Staat keine res publica, keine Angelegenheit der Zivilgesellschaft und ihrer Bürger, sondern eine feindliche Institution, der zutiefst misstraut wird und deren Gesetze zu umgehen als legitim gilt, von der man aber andererseits jede Form von Hilfe und paternalistischer Fürsorge erwartet.
Es ist dies ein historisch gewachsenes Misstrauen gegenüber dem osmanischen "Istanbul", das in der sozialistischen Zeit auf "die Partei" bzw. "Moskau" übertragen wurde und das heute vielfach auf "Brüssel" zielt.
Von ähnlicher Ambivalenz ist in den Eliten und im 'Volk' das Verhältnis zum Westen insgesamt: Während die Eliten sich trennen in deutlich pro- und antiwestliche Fraktionen, in Modernisten und Traditionalisten, ist die Haltung des Volkes zum einen durch Bewunderung und (über)eifrige Imitation, zum andern aber durch defensive Strategien und Widerständigkeiten gekennzeichnet.
Doch die Modernität bzw. 'Europäizität' selbst der pro-westlich Orientierten ist zum guten Teil eine nur oberflächlich- symbolische, denn gegen einen essentiellen Wertewandel bestehen ganz erhebliche Vorbehalte, die sich aus Ängsten vor dem Verlust der eigenen Identität speisen. Wesentliche Teile der über Jahrhunderte gesellschaftlich erworbenen Denkmuster und Verhaltensweisen sind zu integralen Bestandteilen der eigenen Kultur und Identität geworden:
Unverändert groß ist, so zeigen die bisherigen Forschungen in forost, beispielsweise die durch den realen Sozialismus noch wesentlich verstärkte Macht enger sozialer Netzwerke, der Familienbindungen und des personalisierten Vertrauens sowie die Distanz zu zivilgesellschaftlichen Handlungs- und Denkweisen, und unverändert groß ist in beiden Ländern nicht nur die alltägliche Bereitschaft, Gesetze und Vorschriften listig zu umgehen, sondern auch "Beziehungen" zum Nachteil Dritter oder des Staates einzusetzen; die "kleine Korruption" ist ebenso integraler Bestandteil des Alltagshandelns wie die große Korruption die staatlichen Institutionen lähmt.
Dies alles sind nicht unbedingt ideale Voraussetzungen für die EU-Mitgliedschaft, beruht doch die EU prinzipiell auf dem Konzept der Zivilgesellschaft, auf Rechtsstaatlichkeit und auf einem starken institutionellen Vertrauen.
Unter der Überschrift "Ost gegen West. Das Tabu, ängstlich gehütet: Die deutsche Einheit ist gescheitert" hat Jens Bisky (SZ 25.8.05) festgestellt, dass nach nur einem halben Jahrhundert deutscher Teilung die sozio-kulturellen Unterschiede in Deutschland derart gravierend seien, dass man auch nach 15 Jahren Vereinigung von zwei Gesellschaften sprechen müsse.
Ein wichtiger Grund hierfür sei, dass die vorhandenen Unterschiede nicht offen angesprochen, sondern tabuisiert und durch hohe Transferzahlungen überdeckt worden seien. Die Balkanhalbinsel war nicht nur Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte von der Entwicklung in Mittel- und Westeuropa getrennt, die Differenzen sind entsprechend größer und gravierender, vor allem als Folge der Jahrhunderte osmanischer Fremdherrschaft.
Die Integration in die EU hat zwar prinzipiell nicht die gleiche Tragweite wie die Integration in einen Nationalstaat, doch steht zu befürchten, dass auch in Bezug auf Südosteuropa die Nichtbeachtung oder Tabuisierung sozio-kultureller Differenzen langfristig negative Auswirkungen haben könnte; das Beispiel Griechenlands zumindest weist in eben diese Richtung.
Auf der anderen Seite zeigt allerdings sowohl das Beispiel Griechenlands als auch das Ostdeutschlands, dass es bei aller Ablehnung "westlicher" Werte, Normen, Vorstellungen und Verhaltensweisen doch einen langsamen und stillschweigenden modernisierenden Wandel gibt, eine faktische 'Europäisierung von unten', die von den Betroffenen selbst (aufgrund 'struktureller Amnesie') kaum wahrgenommen wird, allenfalls in Differenzen zwischen den Generationen, zwischen Stadt und Land (bzw. Zentrum und Peripherie) oder zwischen ethnischen Gruppen. Das heutige Griechenland ist gewiss nicht das Griechenland von 1981, es hat aber nicht nur ein anderes Entwicklungstempo als etwa Frankreich oder Skandinavien, sondern es rezipiert die Einflüsse der EU auch selektiv und in z. T. durchaus eigenwilliger Weise. Ansätze zu einer analogen Dynamik zeigen sich heute bereits in den neuen EU-Mitgliedsländern (wie Estland und die Slowakei) sowie auch in Bulgarien und Rumänien.
Es wird zu untersuchen sein, ob diese faktische 'Europäisierung von unten' lediglich die materielle Kultur und gewisse äußere Verhaltensformen betrifft, also nur eine 'Fassaden- Europäisierung' ist, oder ob sie auch tiefer liegende Wertvorstellungen, Denkweisen, Verhaltensformen und 'Mentalitäten' erreicht, ob also beispielsweise auch die "Kultur des öffentlichen Misstrauens" schwindet und die Bereitschaft wächst, in Eigeninitiative für Lösungen zu sorgen, statt ständig nur Rettung "von oben" zu erwarten, sich auch für das Allgemeinwohl einzusetzen und nicht nur bei dem z.T. extremen Familienegoismus zu verharren.
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