projekt 331
  Supernationalität und Souveränität im Spannungsverhältnis: Rechtliche Mechanismen für politischen Ausgleich und stabiles Gleichgewicht in der erweiterten EU, insbesondere aus der Perspektive der mittel- und osteuropäischen Länder
Zeitraum 1.1.2006 bis 31.12.2007
Team Rainer Arnold
Christina Tasseva
Fragestellung Supranationalität ist die strukturelle Grundeigenschaft der EU. Sie bedeutet die Existenz einer autonomen Gemeinschaftsgewalt, die mit unmittelbarem Durchgriff in die Mitgliedstaaten Recht setzt, das Vorrang vor den nationalen Gesetzen und - nach Ansicht der EU - auch vor dem nationalen Verfassungsrecht besitzt. Zahlreiche Kompetenzen wurden von den Mitgliedstaaten übertragen und haben zu einer Machtkonzentration auf EU-Ebene geführt, die die Eigenständigkeit, ja Identität der Mitgliedstaaten bedrohen kann. Dies ist in der erweiterten EU mit 25, ab 2007 voraussichtlich 27 Mitgliedstaaten mit erheblichen Unterschieden in Tradition, ökonomischem Gewicht, Sozialstruktur und politischer Erfahrung von ganz besonderer Bedeutung.

Supranationalität in Verbindung mit zunehmender Zentralisierung der Entscheidungsgewalt kann also die Idee einer echten, stabilen Gemeinschaft, die nur auf einem inneren Machtgleichgewicht und auf Achtung der nationalen Identität beruhen kann, gefährden. Gerade bei den früher dem kommunistischen Ostblock angehörenden Staaten könnte sich das Gefühl des abermaligen Souveränitätsverlustes schnell als kontraproduktiv zu dem Bestreben europaweiter Integration erweisen.

Es bedarf insbesondere aus der Perspektive der neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa einer vertieften Untersuchung der möglichen Gegengewichte, die die Glieder der Gemeinschaft - die Mitgliedstaaten und auch die dritte Ebene, die Regionen - gegenüber der Zentralgewalt stärken. Mechanismen, die solche Gegengewichte darstellen, existieren bereits, müssen aber fortentwickelt, verfeinert und effektuiert werden. Auch müssen sie stärker auf die Systeme der Mitgliedstaaten, insbesondere der mittel- und osteuropäischen Staaten als neue Mitglieder hin ausgerichtet werden.

Diese Mechanismen des Gleichgewichts lassen sich in drei Kategorien einteilen, die allerdings untereinander verknüpft sind:

Das kompetenzielle Verhältnis EU und Mitgliedstaaten. Hier geht es insbesondere um die schärfere rechtliche Konturierung des Begriffs der Subsidiarität und des Systems der vertikalen Kompetenzaufteilung in der EU. Beide Fragestellungen sind in Wissenschaft und Praxis noch nicht hinreichend bewältigt. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Subsidiaritätsgrundsatz zeigen erhebliche funktionelle Defizite, sodass nach der Osterweiterung der EU verstärkt über die Verbesserung dieses Instruments nachgedacht werden muss. Die Fortentwicklung dieses Instruments, die im Rahmen der Europäischen Verfassung beabsichtigt war, ist aufgrund der negativen Voten in Frankreich und den Niederlanden gebremst. Es erscheint aber unabdingbar, diese Verbesserung des Subsidiaritätsprinzips in das Unionsrecht zu integrieren, auch wenn die Verfassung nicht in Kraft treten sollte. Die Perspektive Mittel- und Osteuropas kann hier Basis für neue Impulse sein, zumal diese Staaten nach Beendigung des kommunistischen Regimes besondere Sensibilität für die souveräne Gestaltung ihrer internen Angelegenheiten besitzen. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten neu überdacht werden, die bisher, auch unter Berücksichtigung der inhaltlichen Vorgaben des EUVerfassungsentwurfes, noch nicht zufriedenstellend geklärt ist.

Die zweite Kategorie betrifft die Identitätssicherung der Mitgliedstaaten. Die Forderung nach Bewahrung der nationalen Identität gewinnt mit zunehmender supranationaler Zentralisierung immer mehr an Gewicht. Die normative Verankerung einer Identitätsgarantie in Art. 6 Abs. 3 des EUVertrages hat sich bisher als wenig effektiv erwiesen; die Grundfrage nach dem Bestand nationaler Identität und Souveränität auch im Rahmen fortschreitender Integration muss deshalb neu gestellt werden. Die Impulse, die von Politik, Wissenschaft und Verfassungsrechtsprechung der mittel- und osteuropäischen Staaten ausgehen, sind hierfür durchaus förderlich. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um die Untersuchung, inwieweit ein identitätsbestimmender Verfassungskern in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten "integrationsfest" ist, der auch von dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht beseitigt werden darf. Hier haben die Verfassungsgerichte in den bisherigen Mitgliedstaaten und – bisher schon in einzelnen Judikaten - auch die Verfassungsgerichte mittel- und osteuropäischer Staaten die Weichen gestellt. Dieser Verfassungsvorbehalt erscheint neuerdings mit besonderer Deutlichkeit in der juristischen Diskussion in Mittelund Osteuropa. Wahrung der nationalen Identität bedeutet (neben einer effizienten Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, das schon in der ersten Kategorie der Ausgleichsmechanismen genannt worden ist) auch insbesondere die Bewahrung der kulturellen Vielfalt als eines der Disposition durch das Unionsrecht entzogenen Bereichs, darüber hinaus auch den Respekt vor der nationalen Tradition und den darauf basierenden Grundanschauungen und die Garantie eines ausreichenden Bereichs autonomer Gesetzgebung, insbesondere bei der Ausgestaltung unionsrechtlich vorgegebener Richtlinien. Aber auch bei Mitwirkung in den EU-Institutionen muss eine adäquate Einflussnahme der Mitgliedstaaten in einer von allen akzeptierten, dem Prinzip der differenzierten Gleichheit entsprechenden Weise sichergestellt werden. Deswegen ist die adäquate institutionelle Beteiligung der Mitgliedstaaten im Prozess der Gesamtentscheidung wichtig. Die insbesondere von den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa vorgebrachten Forderungen müssen hierbei mit besonderer Sorgfalt betrachtet werden. Auch das Zusammenspiel der zentralen und nationalen Institutionen ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, insbesondere die Rolle der nationalen Parlamente, die im Integrationsprozess zu sehr an Funktion zu verlieren drohen.

Das besondere Interesse der wissenschaftlichen Diskussion in den neuen Mitgliedstaaten an der verbleibenden Rolle der nationalen Parlamente und anderer nationaler Institutionen gilt es aufzugreifen und in die Untersuchung einzubeziehen.

Schließlich sind auch die im Primärrecht vorgegebenen Möglichkeiten zu eigenen Integrationswegen zu untersuchen, wie sie sich im Mechanismus der "verstärkten Zusammenarbeit" und anderer Erscheinungsformen einer "differenzierten Integration" manifestieren.

Damit verbunden ist die Frage, inwieweit Mitgliedstaaten von der Geltung der supranationalen Rechtsakte und gemeinschaftlicher Aktionen ausgenommen werden können, und auch, ob einzelne Mitgliedstaaten auf bestimmten Gebieten die Integration sogar noch weiter fortentwickeln können. Gerade in der erweiterten Union, die eine Vielfalt von autonomen Systemen vereinigt, ist die Frage nach den Möglichkeiten einer flexiblen Integration von besonderer Wichtigkeit.

Die dritte Kategorie betrifft das Phänomen der vertikalen Differenzierung: es geht hier um die Aufgliederung des zweipoligen Verhältnisses EU-Mitgliedstaaten, indem die dritte Ebene, die Regionen, als adäquate Entscheidungsträger der Union anerkannt werden. Die Funktionsstärkung der Regionen auf supranationaler Ebene vermag ein zusätzliches Element des Augleichs gegenüber einer zu stark zentralisierten EU zu bringen: Ihr stehen dazu nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch subterritoriale Einheiten gegenüber, die bestimmte spezifische Kompetenzen (in Kultur-, Bildungs- und Regionalpolitik) übernehmen. Ihre Mitwirkung am Entscheidungsprozess der EU, wie er nach Unionsrecht möglich ist und wie er im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten verankert ist, muss in diese Gesamtbetrachtung einbezogen werden. Dies steht im Zusammenhang mit einem gemeineuropäischen Prozess der Regionalisierung, der auch diejenigen neuen EU-Mitgliedstaaten erfasst hat, welche sich ausdrücklich zu einer unitarischen Staatsstruktur bekennen.

Zielsetzung des Projektes ist es somit, die zu einem Ausgleich zwischen den verschiedenen Ebenen der EU, der zentralen, nationalen und regionalen Ebene, geeigneten Mechanismen auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen, sie insbesondere aus der Perspektive der neuen Mitgliedstaaten Mittelund Osteuropas zu bewerten und Wege für notwendige Veränderungen aufzuzeigen. Dies kann nur interdisziplinär erfolgen, indem rechtliche, politologische, ökonomische und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven zusammenwirken. Über eine Vernetzung innerhalb und außerhalb von forost sollen adäquate Forschungsergebnisse erzielt werden.

Untersuchte Länder
und Zeitperioden
Untersucht werden insbesondere die acht mittel- und osteuropäischen Staaten, die neue EUMitglieder geworden sind. Zugleich werden, besonders zur Regionaldimension des Themas, Frankreich, Spanien und Italien herangezogen.

Zeitperioden: Es wird der aktuelle Stand des Rechts der EU in seiner Entwicklung seit Entstehung der Gemeinschaften analysiert und bewertet und dabei, soweit wissenschaftlich erkennbar, die Zukunftsperspektive einbezogen.

   
 

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