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Weißrussisch

Spezifika

Zustand und Pflege der weißrussischen Standardsprache befinden sich in direkter Abhängigkeit von spezifischen sprachpolitischen und soziolinguistischen Faktoren der sprachlichen Situation in Weißrussland. Es sind dies:1. Die weißrussische Schriftsprache der Neuzeit konnte bislang keinen auf Dauer real gesicherten rechtlichen Status als National- oder Staatssprache erlangen.
2. Die weißrussische Schriftsprache besitzt für einen großen Teil der Bevölkerung der Republik kein Prestige und gilt als nicht brauchbar in wichtigen Kommunikationsbereichen. „Die linguistischen und außerlinguistischen Faktoren führten zu einem außerordentlich niedrigen Nationalbewusstsein der Weißrussen, was an und für sich ein Phänomen im heutigen Europa ist, und zu einem solchen Status der weißrussischen Sprache, bei dem seine Verwendungsbereiche auf dem Territorium Weißrusslands an eigenartige Reservate erinnern, außerhalb derer die Sprachverwendung als unnatürliche und ungewöhnliche Tätigkeit empfunden wird.“ Eine Folge davon ist das relativ geringe Interesse an sprachpflegerischen Publikationen.
3. Die Herausbildung der weißrussischen Standardsprache begann zu einem Zeitpunkt, als die Eliten bereits über eine hochentwickelte Standardsprache, nämlich das Russische, z. T. auch das Polnische, die beide nahe Verwandte des Weißrussischen sind, verfügten. Das Weißrussische musste auch nach der Gründung eines wenigstens formal selbstständigen Staates 1919 den Kommunikationsraum mit dem Russischen teilen, sodass bei verbreiteter Zweisprachigkeit mit diglossischen Zügen eine außerordentlich starke russisch-weißrussische Interferenz besteht.
4. Sprachkultivierung, insbesondere mit puristischen Zügen in Hinblick auf die russischen Bestandteile der Standardsprache, war potentiell immer politischen Verdächtigungen ausgesetzt, die insbesondere in den 1930er Jahren für die Sprachpfleger tragische Folgen hatten. Schon die Überschriften der gegen diese Bemühungen gerichteten Artikel sind signifikant: „Die Sprachwissenschaft als Mittel des Klassenkampfes in den Händen der Nationaldemokraten“, „Die klassenmäßige Wachsamkeit im Kampfabschnitt der Sprache erhöhen“, „Das Unkraut mit der Wurzel ausreißen“, „Die Tarnung des Feindes abreißen“ usw. Noch zu Beginn der 1970er Jahre führten Versuche, die Eigenständigkeit des Weißrussischen gegenüber dem Russischen stärker zu profilieren, z. B. durch Vermeidung der buchsprachlichen, nach russischem Muster gebildeten Partizipien, zu „administrativen Konsequenzen“ – mit anderen Worten, „politische Korrektheit“ wurde nicht nur verbal eingefordert.
5. Herausbildung und Kodifizierung der Normen verliefen über einen langen Zeitraum. Eigentliche Sprachkultivierung und Kodifikationsvorschläge und -ergänzungen sind deshalb, insbesondere in den 1920er Jahren und bis in die 1950er Jahre, nur schwer voneinander zu trennen. Zudem sind die kodifizierten Normen des Weißrussischen z. T. bis heute nicht allgemein anerkannt. Nach 1990 wurden die 1933 kodifizierten Normen der Rechtschreibung und Morphologie und der später kodifizierte Wortgebrauch von Teilen der weißrussischen Elite in Frage gestellt, eine Rückkehr zu den Normen der Grammatik von Taraškevič angestrebt und statt Russizismen Neuschöpfungen und Polonismen verwendet. Die Existenz von zwei schriftlichen Varietäten einer ohnehin an den Rand des Kommunikationsraums verdrängten Sprache macht diese aber eher unattraktiv für potentielle Sprachbenutzer.
6. Die weißrussische Standardsprache verfügt über keine ausgebildete mündliche kolloquiale Form. An ihrer Stelle werden im Alltag auf dem Lande die Dialektsprache, in den Städten das Russische und eine sprachliche Mischform von Weißrussisch und Russisch, die sog. „Trasjanka“ (urspr. ‘Gemenge aus Kurzstroh und Körnern’) verwendet.
Die gängige weißrussische Bezeichnung für Sprachkultur ist культура мовы (Kultur der Sprache), mitunter auch моўная культура (sprachliche Kultur). Wesentlich seltener wird культура маўлення, analog zu russisch культура речи, also „Kultur der parole“ gebraucht. Der Bedeutungsumfang von культура мовы stimmt mit dem des russischen Terminus überein: „ein Inventar von Eigenschaften (kommunikativen Qualitäten) der Sprache, die sie zu einem vollkommenen Mittel der Kommunikation machen“, weiterhin „ein Inventar von Fähigkeiten und Kenntnissen des Menschen, die eine bestmögliche Nutzung der Sprache in der Kommunikation gewährleisten“ und schließlich „eine sprachwissenschaftliche Disziplin, die die kommunikativen Qualitäten der Sprache untersucht“. Die dritte Bedeutung entspricht wohl am ehesten dem deutschen Sprachkultivierung bzw. Sprachpflege.