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Serbokroatisch

Spezifika

Soziolinguistisches Beschreibungsmodell: Die soziolinguistische Beschreibung des Serbokroatischen ist mit folgendem Modell relativ zutreffend erreicht worden, sieht man von oppositionellen, insbesondere kroatischen Bestrebungen ab: (1) Das Serbokroatische ist (bzw. nun: war) die gemeinsame Standardsprache der genannten Völker (Serben, Kroaten, Bosnier, Montenegriner) und zwar auf einer übergreifenden Metaebene, d. h. als abstraktes Diasystem auf der Grundlage des allen diesen Völkern im Wesentlichen gemeinsamen, sehr umfangreichen ijekawisch-neuštokavischen Dialektkontinuums. Diese grundlegende dialektale Gemeinsamkeit, zu der solche der mündlichen und teils auch schriftlichen Literatur kommen, ist seit dem beginnenden 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße die sprachliche Basis, auf der die ideologischen Vorstellungen und sprachpflegerischen Aktivitäten serbischer und dann auch kroatischer Schriftsteller, Intellektueller und zunehmend weiterer Kreise aufbauen. Diesen Vorstellungen schlossen sich auch die (serbischen, kroatischen und muslimischen) Bosnier und die (bisher meist als Serben bezeichneten und sich verstehenden) Montenegriner an.
(2) Seine praktische Realisierung fand dieses dialektal fundierte, gemeinsame linguistische Diasystem auf der Ebene gesprochener regionaler bzw. dann nationaler Sprachformen, sodass die geringfügigen sprachlichen, historisch gewachsenen Besonderheiten in gewissen Grenzen ihr Recht erhielten, ohne die von der Mehrheit gewünschte und erstrebte Gemeinsamkeit in Frage zu stellen. Diese sprachliche Gemeinsamkeit wurde mit dem Entstehen eigener Staatlichkeit (Erstes oder Versailler Jugoslawien 1918 bis 1941, Zweites oder Tito-Jugoslawien 1945 bis 1991) auch offizielle (Sprach-)Politik, die eine – periodenweise durchaus unterschiedlich – starke, teilweise auch zwanghafte Vereinheitlichung und Einebnung der regionalen Unterschiede propagierte, ohne sie wirklich erfolgreich auf dieser praktischen Ebene dauerhaft durchsetzen zu können. Die Impulse zu dieser Vereinheitlichung kamen aus der gemeinsamen staatlichen Zentrale Belgrad, also aus dem serbischen Zentrum, und wurden von oppositioneller kroatischer Seite immer wieder verdeckt oder offen als Serbisierung bezeichnet und abgelehnt, obwohl auch führende kroatische Vertreter dieses Konzept fast von Anfang an mittrugen.
Im Einzelnen galt in dem zweistufigen Beschreibungsmodell auf dieser Ebene Folgendes: Es gab zwei als polarisiert bezeichnete „Varianten“ Serbisch und Kroatisch und zwei als integrierend verstandene „schriftsprachliche Ausdrücke“ Bosnisch und Montenegrinisch. Die Polarisierung der zwei Varianten zeigte sich vor allem darin, dass sie in einigen sprachlichen Bereichen unterschiedliche Lösungen zuließen: Das sind – wegen der gemeinsamen Dialektgrundlage – sehr wenige und geringfügige phonetische, morphologische, kleinere syntaktische, aber eine Reihe deutlicher lexikalischer Unterschiede; diese Unterschiede wurden in der Lexikographie in der Regel nicht markiert (selten als „östlich“ oder „westlich“ bezeichnet), was die offizielle Tendenz der ersten (metasprachlichen) Ebene deutlich widerspiegelt. Auf der zweiten Ebene nannten die Sprecher in Kroatien diese ihre Sprache vorwiegend Kroatisch, die Serben in Serbien Serbisch. Das Nebeneinander dieser beiden Varianten im Rahmen einer gemeinsamen serbokroatischen Standardsprache zeigt klar und exemplarisch noch das Stichwort „Jezik srpskohrvatski/hrvatskosrpski, hrvatski ili srpski“ („Serbokroatische/kroatoserbische, kroatische oder serbische Sprache“) der abgebrochenen 2. Auflage der Enciklopedija Jugoslavije, das 1988 als Vorabdruck und noch 1990 im 6. und letzten Band dieser Enzyklopädie erschien: Der Kroate Dalibor Brozović schreibt seine Teile in seiner kroatischen, der Serbe Pavle Ivić in seiner serbischen Variante, und gegenseitiges Verstehen ist „enzyklopädisch“ problemlos möglich.
Das Bosnische galt in dieser Konzeption als die Unterschiede der Varianten integrierender, Toleranz wahrender schriftsprachlicher Ausdruck der Serben, Kroaten und Muslime in Bosnien, denen also die Wahl der Variante freigestellt war; dazu kamen zahlreiche bosnische Besonderheiten, vor allem Turzismen in der Sprache der Serben (auch in Serbien) und mehr noch der Bosniaken. Diese Toleranz wurde praktiziert. Mehr wohl aus sprachpolitischem und Republiken-Proporz (also die Varianten Serbisch in Serbien vs. Kroatisch in Kroatien wie die Ausdrücke Bosnisch in Bosnien vs. Montenegrinisch in Montenegro) als aus tatsächlichen montenegrinischen Bedürfnissen kam dazu dieser zweite schriftsprachliche Ausdruck, das Montegrinische; Hauptvertreter dieser inoffiziellen Bewegung ist V. Nikčević mit zwei kritisch aufgenommenen Publikationen, eine offizielle sprachpolitische Forcierung ist (noch) nicht erkennbar.
Das zweistufige soziolinguistische Beschreibungsmodell gründet also auf einer nahezu identischen, gemeinsamen linguistischen (dialektalen) Grundlage dieser Völker. Dazu kommen im frühen 19. Jahrhundert deutliche Vorstellungen und Erwartungen von Gemeinsamkeit, die später auch in gemeinsamen Kodifikationen und Publikationen Ausdruck fanden. Der gemeinsame Staat ab 1918 bzw. 1945 griff folgerichtig diese Vorstellungen auf, rief aber durch seine staatliche Normierungsmacht, die besonders von kroatischer Seite als restriktiv empfunden wurde, immer wieder auch Gegenwehr hervor.