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Russisch

Allgemeines

In der russischen Sprache der Gegenwart sind folgende Erscheinungsformen zu unterscheiden: die Literatursprache, territoriale Dialekte, städtische Umgangssprache (городское просторечие), Fachsprachen, soziale Subsprachen (социальные жаргоны). Die Spezifik der heutigen sprachlichen Situation in Russland besteht im intensiven Zusammenwirken all dieser Erscheinungsformen, die sich strukturell, funktional und soziolingual wesentlich voneinander unterscheiden, sowie in der intensiven Funktionalisierung der russischen Gegenwartssprache, d. h. in der Aktivierung ihrer produktiven und rezeptiven Formen. Diese Veränderungen der sprachlichen Situation verursachen zahlreiche Prozesse mit (positiven wie negativen) sprachkulturellen Folgen: die schnelle und schwer aufzuhaltende Schwächung der früher stabilen sprachlichen Normen, die wachsende Varianz im Sprachgebrauch, das Zurücktreten der schönen Literatur als sprachkulturelles Vorbild, die spontane Rehabilitierung der früher nur als negativ bewerteten nicht-literarischen Idiome (Mundarten, Umgangssprache, Soziolekte und subkulturelle Sondersprachen). Wesentliche Merkmale der Sprachsituation sind weiterhin: die sprachliche Bewältigung der neuen kommunikativen Bereiche, die Überwindung der ideologisch bedingten Einschränkungen im Sprachgebrauch der totalitären Zeit, die Erweiterung der Träger der russischen Literatursprache. Die Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens und die Erweiterung der kommunikativen Bedürfnisse der Menschen begünstigen die Verbreitung der spontanen (unvorbereiteten), oft emotional gefärbten Rede, vor allem im öffentlichen Sprachgebrauch; die wachsende Zahl von Äußerungen zeigt zugleich die unzureichende sprachliche Kompetenz vieler Sprachträger. Auch der stärkere Dialogcharakter und die persönliche Prägung anstelle der vorwiegend monologischen Kultur der Stagnationsperiode sind neue Merkmale der russischen Sprachkultur. Es handelt sich dabei um den Verzicht auf den ehemaligen monostilistischen Sprachgebrauch im öffentlichen Diskurs. Neu ist die Neigung zur stilistischen Heterogenität, zur Unverbindlichkeit und zum Gebrauch von kontrastierenden Sprachmitteln aus dem nicht-normativen, nicht-literarischen Sprachgut. Als Folge verlieren die Stilnormen der kultivierten russischen Sprache ihren ehemaligen systemhaften Charakter und tendieren zu einem neuen stilistischen Koordinatensystem.

Mit großer Besorgnis spricht man heute vom Verfall der Sprachkultur, von der Missachtung der ethischen und ästhetischen Komponenten im Sprachgebrauch. Diese Merkmale zeigen sich in der Jargonisierung der Literatursprache, in der Verbreitung von Schimpfwörtern und Grobianismen aus den subkulturellen Sondersprachen, in derben und primitiven Redeweisen. Sprachkritik als Bestandteil der traditionellen Sprachkultur des Russischen findet nach den ziemlich eingeschränkten Möglichkeiten in der nahen Vergangenheit immer größeren Anklang in der Sprachkultivierung der Gegenwart. Die Wandlungen im öffentlichen Sprachgebrauch bieten der Sprachkritik ein weites Betätigungsfeld, auf dem nicht nur Linguisten, sondern auch Journalisten und Publizisten aktiv sind (sprachkritische Aussagen gibt es nicht nur im Zusammenhang mit den Abweichungen vom normativen Sprachgebrauch als Zeichen mangelhafter sprachkultureller Kompetenz; kritische Bewertungen betreffen auch den übermäßigen Fremdwortgebrauch, bestimmte Redewendungen und Wortbedeutungen, die in der öffentlichen Rede als Ausdruck des politisch-ideologischen Engagements und tiefer Umgestaltungen in den Bewusstseinsstrukturen vorkommen). An die Stelle der Kultivierung der normativen Sprachrichtigkeit als Hauptaufgabe der Sprachkultur in den 1930er bis 1980er Jahren tritt in der heutigen Situation eine deutliche Neuorientierung. In der Sprachkultur werden drei zusammenhängende Aspekte des Sprachgebrauchs unterschieden: normativer, kommunikativer und ethischer Aspekt, die durch die angemessene, normgerechte Wahl der sprachlichen Mittel die Effektivität der Kommunikation als Endziel der Sprachkultur zu sichern haben. In den normgebenden Bemühungen der neuen Zeit überwiegen nun nicht mehr die restriktiven Motive: Die Norm erscheint als Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Varianten; in der neuen Sprach- und Kultursituation wird der Sprachgebrauch der mittleren sozialen Schichten stärker berücksichtigt. Zu diesem Zweck werden neue Methoden bei der Bewertung der Normen und der Variantenwahl entwickelt.Im Rahmen der heutigen Aufgaben der Sprachkultur wird den soziolinguistischen Aspekten daher besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Es wird vorausgesetzt, dass der normgebenden Tätigkeit eine umfassende Erforschung des sprachlichen Verhaltens verschiedener sozialer Schichten und Gruppen der Sprachträger vorhergehen sollte.Besondere Aufgaben stellen sich für die Sprachkultivierung in den Bereichen Politik, Jurisprudenz, Massenmedien und Werbung, die früher unter ideologischer Kontrolle standen und in denen jetzt selbständige sekundäre sprachliche Systeme entstehen, die die Literatursprache stark beeinflussen. Die neuen Bildungsprogramme für Schule und Hochschule haben als unabdingbare Komponente die Verbreitung sprachlicher Kenntnisse und Vertiefung der literatursprachlichen Kompetenz zur Aufgabe. Zur sprachkulturellen Aufklärung der Bevölkerung tragen zahlreiche Veröffentlichungen von Wörterbüchern unterschiedlicher Typen sowie die Popularisierung der linguistischen Fachkenntnisse bei.